Es hat mich schon ein bisschen schockiert: Im Rahmen des Medienkunde-Unterrichts an der Fachmittelschule in Aarau (Schüler/innen sind ca. 18 Jahre alt) wollte ich wissen, wie meine Klasse Medien nutzt. Das Resultat: Viele Schüler/innen hören überhaupt nicht Radio und schauen kaum mehr fern - sie sind dafür praktisch ständig online.
Gut, das ist eine Klasse, das sind 20 Personen. Repräsentativ ist dieses Resultat nicht. Aber inzwischen mehren sich auch die empirischen Beweise für ein völlig neues Mediennutzungsverhalten.
Kurz: Die Medienwelt steht mitten in einer Revolution. Und die Folgen dieser Revolution sind ungefähr so einschneidend wie zu früheren Zeiten die Erfindung des Buchdrucks, des Rundfunks oder des Fernsehens.
Die Revolution empirisch belegt
Die Erkenntnisse aus der kleinen Umfrage im Klassenzimmer sind durchaus allgemeingültig. Die aktuelle Ausgabe der Onlinestudie von ARD und ZDF unterstreicht die Entwicklung: Immer mehr Menschen schauen TV-Inhalte nicht mehr am Fernsehen, sondern online. Dabei ist die Zunahme unter den 14-29 Jährigen besonders stark. Bewegtbilder sind und bleiben beliebt - ihre Nutzung aber verschiebt sich vom TV-Gerät ins Netz.
Auch die Schweizer KommTech-Studie (der Publica Data AG) zeigt: Die Mediennutzung verschiebt sich von den traditionellen elektronischen Medien weg ins Netz. Erstmals stagniert die Nutzung von Radio zur "Täglichen Information über das aktuelle Zeitgeschehen" - während die Internet-Nutzung in diesem Bereich weiter stark steigt. Es ist also nur eine Frage der Zeit, dann wird die Nutzung von Online-Nachrichtenportalen die Nutzung der Informationssendungen am Radio überholen.
Skeptiker mögen einwenden, dass auch das Mediennutzungsverhalten mit zunehmenden Alter sich ändern kann. Nur: Wie die Hörerzahlen der ersten und dritten Radioprogramme zeigen, bleiben viele Hörer/innen "ihrem" Sender praktisch ein Leben lang treu. Wer mit dem dritten Programm "sozialisiert" wurde - hört dieses dritte Programm auch mit 40 oder 50 Jahren noch - und wechselt nicht auf das eigentlich für diese Zielgruppe vorgesehene erste Programm.
Fazit: Die heute im Web 2.0 sozialisierte Generation wird zumindest teilweise ihrem Nutzungsverhalten treu bleiben. Die Revolution im Medienbereich hat damit begonnen - und ist nicht mehr aufzuhalten.
Journalismus 2.0
Die Folgen dieser Revolution sind weitreichend, vielfältig und einer rasanten Entwicklung unterworfen. Trotzdem soll hier versucht werden, diese grob zu skizzieren.
Journalisten und Medienhäuser versuchen bereits - seit mehr oder weniger langer Zeit - sich dem neuen Nutzungsverhalten anzupassen:
- Online-Portale ergänzen die gedruckten Tageszeitungen und die "traditionellen" elektronischen Medien Radio und TV (über die Probleme der Finanzierung solcher kostenlosen Nachrichtenportale sei hier nicht weiter diskutiert).
- Journalisten müssen den Umgang mit den neuen (technischen) Möglichkeiten lernen: Bei SRF darf ich selber aus gestandenen Radio-Journalisten sogenannte "bimediale" Journalisten züchten... also Journalisten, die neben einem Radiobeitrag auch noch einen webtauglichen Nachrichtentext schreiben können... und zum Teil auch noch gleich das notwendige Bildmaterial liefern (ja, es gibt Radiojournalisten, die mit Mikrofon und Foto-Kamera ausrücken...). Die NZZ schult ihre Redaktion im Umgang mit den Kurznachrichtendienst Twitter (übrigens eine sehr lohnende Präsentation für alle, die sich ebenfalls mit diesem Tool anfreunden möchten). Das waren nur zwei Beispiele zur Illustration...
- Medienhäuser schmieden Pläne und Strategien zur crossmedialen Verbreitung von Inhalten... wie können sich verschiedene Medienvektoren in der Berichterstattung zu einem Ereignis ideal ergänzen - und wie müssen die Redaktionen dafür auf- und ausgebaut werden?
- Redaktoren und Wissenschafter entwickeln neue Erzähl-Formate für Geschichten im Netz... Text, Bild, Ton, Grafik und Interaktion verschmelzen zu einem neuen Ganzen - mal mehr, mal weniger gelungen. Multimedia-Storytelling ist im Moment ein weit offenes Tummelfeld für gelungene und gescheiterte Versuche...
- Durch die Einbindung von Social Media auf redaktionell betreuten Nachrichtenseiten etabliert sich langsam eine neue Art von Journalismus - eine interaktive Form des Public Journalism. Vor allem aber wird der normale Bürger zum alltäglichen Informationslieferanten, der - mit Einschränkungen natürlich - die Arbeit von Nachrichtenagenturen-Reportern übernimmt. Vor allem bei grossen Nachrichten-Ereignissen (Naturkatastrophen, Bomben-Attentate etc.) wird das Volk bereits heute zur Quelle für aktuelle News und Bilder.
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Fülle von neuen Herausforderungen, denen sich Journalistinnen und Journalisten in aller Welt aktuell stellen müssen. Gerade durch die Interaktion mit dem Publikum verändert sich auch das Berufsbild massiv: Der Journalist und sein Medium sind nicht mehr selbstbestimmte Sender - der Konsument ist nicht mehr den Themen und der Gewichtung dieser Medien "ausgelieferter" Empfänger, sondern er kann eingreifen, mitreden, korrigieren sogar.
(Unternehmens-)kommunikation 2.0
Wenn der Journalismus neu erfunden wird, dann müssen wohl auch die traditionellen "Informationslieferanten" ihre Arbeit überdenken. Reicht heute das Versenden einer Medienmitteilung im PDF-Format, wenn man die Öffentlichkeit über Neuigkeiten im eigenen Unternehmen unterrichten will? Die Antwort ist klar und einfach: Nein.
Auch die PR-Abteilungen sind gefordert, müssen sich dem neuen Medien-Nutzungsverhalten des Publikums anpassen. Auch hier sind die Möglichkeiten und Anforderungen vielfältig und komplex - auch hier deshalb lediglich der Versuch einer groben Skizzierung:
- (Online-)Redaktionen haben andere Bedürfnisse an die Kommunikationsabteilungen: Meldungen müssen zeitnaher erfolgen (Das Wort "Aktualität" hat im Web eine neue Dimension erreicht - der Konkurrenzkampf zwischen den Redaktionen bewegt sich z.B. auf Twitter im Sekundenbereich! "Sieger" ist, wer die Schlagzeile als erster twittert...). Dieser Aktualitätsanspruch, dieses Tempo erfordert eine gut ausgebaute und flexible Kommunikationsabteilung, kurze Entscheidungswege etc.
- (Online-)Redaktionen haben mehr Bedarf an "Mehrwert": Wundern Sie sich nicht, wenn der Radio-Journalist nach seinem Interview plötzlich nach einem Bild zur Geschichte fragt - auch er muss heute ein Online-Nachrichtenportal bedienen!
- Nicht mehr nur Zeitungen wollen Hintergrundinformationen: Viele Nachrichtenportale pflegen ganze "Dossiers" zu spannenden Themen - da reicht eine kurze Medienmitteilung nicht mehr als "Rohmaterial" für Journalisten. Die Firmen-Website muss damit zum gut betreuten Informationsarchiv werden...
- Das Publikum sucht sich Informationen nicht mehr nur bei den "traditionellen" Informationsanbietern - sprich Medien. Wer also eine breite Öffentlichkeit erreichen will, muss unter Umständen gezielt auch selber direkte Kommunikation mit dem "Empfänger" betreiben - ohne den bisherigen "Vermittler" Journalist... Marcel Bernet empfiehlt daführ zum Beispiel eine Art "Social Media Newsroom".
- Auch Kommunikationsverantwortliche können plötzlich im direkten "Gegenwind" der Öffentlichkeit stehen. Der deutsche Energiekonzern TelDaFax gilt als legendäres Beispiel dafür, wie man mit Kunden-Reaktionen auf Facebook nicht umgehen darf. Eine falsche Antwort auf ein Kundenfeedback kann im sozialen Netzwerk ein wahres Erdebeben auslösen. Kommunikationsverantwortliche haben damit ganz neue Ansprechpartner (Kunden statt Journalisten), müssen mit einer völlig neuen Dynamik umgehen lernen und dazu ihr Medienmonitoring massiv ausbauen.
- Ähnlich wie das Berufsbild des Journalisten ändert sich damit auch das Berufsbild der Kommunikationsverantwortlichen bei Firmen und Behörden. Der ehemalige "Mediensprecher" wird zum "Moderator" im sozialen Netzwerk.
Dass alle diese neuen Aufgaben, diese neuen Herausforderungen mit einem Ausbau der Kommunikationsabteilung abgefedert werden müssten, versteht sich von selbst. Dass sich kaum eine Firma einen solchen Ausbau leisten kann oder will, versteht sich auch von selbst.
Redaktionen und Kommunikationsverantwortliche sehen sich deshalb mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert: Die Medien-Revolution 2.0 fordert sie massiv - dabei sind die (wirtschaftlichen) Rahmenbedingungen aber kaum besser als noch "vor Web 2.0".
Fazit
Was ist also zu tun? Eine einfache Antwort auf diese einfache Frage gibt es wohl nicht.
Eine Analyse der eigenen Kommunikationsbedürfnisse, der gewünschten Zielgruppen und der eigenen Ressourcen sind vorrangig. Nur wer diese Parameter kennt, kann eine realistische Strategie entwickeln, um sich der Medien-Revolution zu stellen. Das gilt für Medienkonzerne und Kommunikationsabteilungen gleichermassen.
Dazu braucht es - und nun schweifen wir ab in die Stammtisch-Psychologie, sorry... - eine grosse Portion Gelassenheit. Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten, also sollten wir lernen, damit umzugehen. Ohne in Hyper-Aktivismus zu verfallen und uns ständig neu zu erfinden.
Die Entwicklungen beobachten, bei Bedarf gezielt reagieren und ab und zu auch einmal etwas zuwarten (vielleicht erweisen sich einzelne Entwicklungen ja doch nur als vorübergehende Hypes?): Als Grundrezept im Umgang mit einer Revolution scheint mir diese Taktik gar nicht so verfehlt.
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