Die Wahlen stehen vor der Tür. Politikerinnen und Politiker diskutieren, debattieren und geben Auskunft in allen Medien. Und immer wieder zitieren sie dabei Studien, stellen Behauptungen auf und präsentieren ihr Weltbild. Das gehört sich so - ist aber oft sehr, sehr unbefriedigend für den Medienkonsumenten. Denn: Ob Politiker die Wahrheit sagen, bleibt oft im Dunkeln.
Beispiel: Die Behauptung
Der Beispiele gäbe es wahrscheinlich Dutzende. Hier sei einfach - exemplarisch und ohne dabei eine politische Aussage machen zu wollen - eine konkrete Situation geschildert. SVP-Mann Walter Wobmann erklärt im Regionaljournal von Schweizer Radio DRS lang und breit, weshalb die SVP sich gegen "übermässige Zuwanderung" einsetze. Gleichzeitig betont der Politiker selbstverständlich, dass er an und für sich überhaupt nichts gegen gut intergrierte Ausländerinnen und Ausländer habe. Soweit, so gut und einsichtig. Die Journalisten bemühen sich redlich um kritische Nachfragen, das Gespräch hat Drive und ist spannend, der Politiker durchaus auch mal in Eklärungsnöten. Das Interview ist - meiner Ansicht nach - also gut gemacht.
Dann aber die Frage nach dem Familiennachzug: "Wenn Sie nur Ausländer wollen, die hier arbeiten, dann müssten die also von ihren Familien getrennt hier leben?" fragt die Journalistin (aus dem Gedächtnis zitiert, nachhören unter obigem Link möglich). "Nein, nein, Familiennachzug ist schon in Ordnung, wenn nicht ganze Sippschaften einreisen und so..." sagt der Politiker sinngemäss darauf. Und behauptet damit also implizit, dass der Familiennachzug in der Schweiz grausam lasch geregelt sei.
Beispiel: Die Wahrheit
Wenn man nun aber die Regelungen zum Familiennachzug liest, dann merkt man, dass es genau nur um die engsten Familienkreise geht bei diesem Gesetz. Nämlich um Ehegatten und Kinder. Punkt. Da ist nichts zu erfahren von erweiterter Sippschaft, da lässt kein einziger Buchstabe darauf schliessen, dass Ausländer ganze Busse voller Verwandter in die Schweiz einreisen lassen dürften.
Wenn also der besagte Politiker in seinem Interview implizit diesen Vorwurf in die Welt setzt, dann ist dieser Vorwurf völlig unbegründet. Aber natürlich macht es aus wahltaktischen Überlegungen Sinn, wenn man sich als kritischen, aber natürlich nicht gänzlich unsozialen Menschen darstellt bei dieser Frage.
Das Problem der Interviewer
Nochmals: Das ist nur ein Beispiel. Und es gäbe wohl noch viele davon. Eigentlich ist es auch klar: Man kann wohl von keinem Politiker, keiner Politikerin verlangen, dass er oder sie sich in allen Themenbereichen so gut auskennt, dass niemals eine Unvorsichtigkeit passiert. Nur - und da beginnt das Problem: Man kann auch von keinem Journalisten der Welt verlangen, dass er sich in allen Themenbereichen der Politik so gut auskennt, dass er auf solche Unvorsichtigkeiten adäquat reagieren kann.
Wenn die "Volksaufklärung" vor den Wahlen das oberste Ziel ist (und das ist sie wohl, so hoffe ich...), dann müsste ein Journalist nach dieser etwas haltlosen Behauptung ja eingreifen und korrigieren. Im Sinne von "aber entschuldigen Sie, diese Form von Familiennachzug gibt es ja überhaupt nicht, also ist Ihre Aussage jetzt einfach populistisches Geschwätz... Was denken Sie wirklich über diesen Familiennachzug?". Nur so wäre das Ziel der Volksaufklärung wirklich erreicht - denn jetzt müsste der Politiker wirklich Farbe bekennen. Da wäre nix mehr mit Versteckspiel hinter irgendwelchen Floskeln, da wäre dann fertig mit "dem Volk nach dem Mund sprechen". Oder so...
Die (unrealistische) Lösung
Es gibt nur eine Lösung für dieses Problem - und ich gebe zu, sie ist alles andere als realistisch. Aber wer die Wahrheit als oberstes Gebot gerade in der Berichterstattung vor den Wahlen anschaut, müsste eigentlich zu diesem ungewöhnlichen und aufwändigen Mittel greifen.
Mein Vorschlag: Politiker-Interviews und Diskussionen wie die "Arena" müssten aufgezeichnet werden. Anschliessend müsste eine ganze Horde von gut ausgebildeten Journalisten und/oder Beamten diese Sendungen visionieren und bei allen mehr oder minder aus der Luft gegriffenen Behauptungen eingreifen. Ich stelle mir das so vor: Politiker X zitiert eine Studie und begründet damit irgendeine politische Haltung... Sofort wird (am TV) eine Textleiste eingeblendet mit den Originalzahlen dieser Studie und einer eindeutigen Quellenangabe. Ich behaupte mal, da würden sehr oft Unschärfen oder gar Lügen aufgedeckt - zumindest könnten Zuschauer/innen (notabene die Wähler/innen) sich damit ein eigenes Bild der Sache machen.
Dasselbe würde passieren, wenn Politiker Y wie in obigem Beispiel dargestellt eine Aussage macht über ein (vermeintliches) Problem. Sofort wäre ein Lauftext auf dem Bildschirm, der verrät, dass das Ausländergesetz gar keine Familiennachzüge ausserhalb der engsten Verwandtschaft zulässt - inklusive Quellenangabe natürlich. Ich behaupte auch hier: Viele Politiker/innen (von rechts bis links) würden dadurch entlarvt, viele Aussagen würden wackeln, viele platte Sprüche als unseriös erkennbar.
Ja, der Aufwand wäre enorm. Ganz zu schweigen von den technischen Problemen (am TV geht's, in Zeitungen könnte man mit Fussnoten arbeiten, wie aber soll man am Radio solche Korrekturen "einblenden"?, man müsste wohl das Gespräch jeweils unterbrechen). Aber die Glaubwürdigkeit der Vorwahlberichterstattung würde massiv steigen. Und die Vorsicht bei den Politiker/innen vielleicht auch.
Fazit und Ernüchterung
Was bleibt nach diesem Gedankengang ist die etwas ernüchternde Feststellung, dass der Journalismus wohl kaum in der Lage ist, diese von Politikern in die Welt gesetzten Halbwahrheiten ständig zu entlarven. Und dass damit dem Stimmvolk auch weiterhin gewisse Halbwahrheiten problemlos serviert werden können, gewisse völlig unzureichende Lösungsansätze als die einfache Wahrheit verkauft werden können.
Damit müssen wir wohl oder übel leben. Oder aber - und das ist etwas zu befürchten - wir schalten einfach generell auf Durchzug, wenn wieder mal ein Politiker seine Meinung feil hält im Hinblick auf die Wahlen.
Eine Studie in Österreich offenbart eine grosse Politiker-Verdrossenheit. Dass diese durch unqualifizierte Äusserungen und dahergeredete Plattitüden nicht kleiner wird, sollte auch den Politiker/innen selber einleuchten. Nicht nur der Journalismus, sondern auch die Politik selber steht da - meiner Ansicht nach - in der Pflicht.
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Marco Jaggi (Montag, 12 September 2011 17:03)
Wenn ein Politiker nur noch die Wahrheit sagen würde, wäre es ja keine Politik mehr! Und sowieso: welche Wahrheit?
Anderer Vorschlag, weniger aufwändig: Vor jedem Interview den Politiker kräftig abfüllen, denn: "in vino veritas"! Erleichtert die Wahrheitsfindung, und erhöht den Unterhaltungswert und die Quoten.