Kurzfutter reicht nicht (allen)

1200 Zeichen maximal
Zeichenbeschränkungen beschränken. (Bild: mvmedia)

Wie lange darf ein Online-Text sein? Wollen Online-NutzerInnen nur Kurzfutter? Diese Frage diskutieren Schreiberlinge täglich und zum Teil kontrovers. Aktuell gilt allgemein das Credo: Kurz funktioniert online besser. Das führt dazu, dass viele Online-Medien zu boulevardesker Oberflächlichkeit neigen. Ich glaube: Das alles muss gar nicht so sein.

 

Man sollte sich in solchen Blogs ja eigentlich mit Wissen und präziser Analyse profilieren. Und nicht mit Glaube. Aber mir fehlt schlicht das Zahlenmaterial, die entsprechende statistische Untersuchung, um meine These zu beweisen. Also führe ich sie einfach so aus.

 

Kurz muss ja nicht oberflächlich sein

Das Lesen am Bildschirm ist für das menschliche Auge relativ anstrengend. Ich merke das zum Beispiel nach jeder längeren Zugfahrt, auf der ich alle meine News-Apps auf dem Smartphone systematisch durchgearbeitet habe. Anschliessend schmerzen meine Augen... Ich merke das aber auch, wenn ich bei SPON eine lange, spannende Reportage lese. Am Bildschirm versteift sich durch die ungesunde Haltung mein Nacken - dieselbe Lektüre in der Papierausgabe des «Spiegel» ist viel angenehmer.

 

Diese Erfahrungen sprechen für kurze Online-Texte. Genau so wie die Tatsache, dass man Online-News zum Beispiel während der Arbeit nutzt und Nachrichten-Websites für viele Menschen (und auch in vielen Verleger-Strategien) vor allem die tagesaktuellen News-Updates liefern sollen und weniger die hintergründige Sonntagszeitungslektüre ersetzen.

 

Der Online-Redakteur mit Anspruch verzichtet trotzdem nicht auf die Vermittlung von Hintergrund oder Analyse: Er portioniert die Texte einfach. Ein Thema ergibt dann mehrere Artikel: Der interessierte User kann weiter klicken und mehr erfahren. Dazu gibt es verschiedene mögliche Mischformen, die zum Teil (in den USA vor allem) bereits aktiv genutzt werden. So können aus kleinen «Rumpf-Meldungen» mit der Zeit ganze Dossiers zu einem Thema entstehen. Wem die Kurzmeldung zu Beginn aber ausreicht, der klickt sich eben weg.

 

Technik für Ausdauer

Online Website Spiegel Artikel 4000 Zeichen
Gut 4000 Zeichen: Ist das zu viel? (Screenshot spiegel.de)

Aber darüber will ich eigentlich gar nicht schreiben. Die These ist ja: Es dürfen auch mal längere Texte ins Netz. Und damit meine ich nicht 2000 Zeichen statt nur 1000 Zeichen, sondern vielleicht auch mal 3500 oder 5000 oder 7500. Und dabei spreche ich von journalistischen Texten, aber auch von PR-Artikeln. Einfach online.

 

Eine Rolle spielt sicherlich die technische Entwicklung: Bildschirme werden immer schärfer, immer angenehmer für das menschliche Auge. Die Bildschirme von E-Book-Readern sind dafür das beste Beispiel. Warum also sollten nicht bald auch alltägliche Bildschirme für die Nutzung von normalen Websites in dieser Qualität verfügbar sein? Beim aktuellen Tempo der technologischen Entwicklung ist das wohl eine realistische Vermutung.

 

Dazu kommt: Je mehr multimediale Möglichkeiten zur Verfügung stehen und von Online-Redakteuren genutzt werden, desto lebendiger wird quasi die Umgebung des Textes. Ich lese dann zwar einen Text, werde aber ständig durch multimedialen Mehrwert etwas abgelenkt oder neu animiert, was mein Auge entspannt und meine Ausdauer erhöht. Ein hübsches Beispiel dafür ist für mich die Geschichte Snow Fall der New York Times.

 

Die Wellen-Philosophie

Es gibt aber auch ein inhaltliches Argument für mehr Länge - auch online. Ich bin davon überzeugt, dass immer mehr Menschen sich wieder nach ausführlichem, analytischem, hintergründigem Journalismus sehnen. Weil sich aber die Mediennutzung geändert hat, muss dieser Journalismus nun auch im Internet seinen Platz finden.

 

Warum sollen sich Menschen wieder nach längeren Texten sehnen? Weil die gesamte kulturelle Entwicklung durch eine Art Wellen-Bewegung geprägt ist (das hat offenbar einmal irgend ein Philosoph so beschrieben, ich kann mich nur leider nicht mehr an die Quelle erinnern). Also: Nachdem weltweit die grossen Fastfood-Ketten unsere Essgewohnheiten auf Hamburger im Eiltempo getrimmt haben, besinnen sich nun immer mehr Menschen zurück auf die Qualität einer frischen, ausgedehnten Mahlzeit - Slow-Food ist hip. Nachdem jahrelang die Löhne der Banker angestiegen sind unter den Augen der von den geschäftlichen Erfolgen geblendeten Öffentlichkeit, hat nun plötzlich eine Abzocker-Initiative eine Mehrheit gefunden. Die Mode-Branche beweist Jahr für Jahr, dass gewisse Formen und Farben wie Wellen immer wieder auftauchen.

 

Es gibt also immer eine Art Pendelbewegung - mal in die eine, dann zurück in die andere Richtung. Ein Korrektiv, das automatisch eingreift, wenn wir zu sehr in die eine Richtung neigen. Warum soll die Mediennutzung von diesem Phänomen ausgeschlossen sein?

 

Slow Food und Slow Read

Salat Slow Food Food Blüten
Slow Food ist hübsch, Slow News sind spannend. (Bild: UJG, pixelio.de)

Die Welt dreht sich scheinbar immer schneller. Wir konsumieren heute zwar mehr Medienprodukte denn je, sind dabei aber vor allem von Ereignissen getrieben. Haben etwas gehört, schauen schnell im Netz nach, was dazu geschrieben wird. Sehen einen spannenden Link auf Facebook oder Twitter, lesen dann aber den angeklickten Artikel gar nicht zu Ende. Wenden uns wieder der Arbeit zu, schauen ein paar Minuten später wieder ins Netz, lassen uns updaten. Diese atemlose Nutzung scheint irgenwie zur atemlosen (Arbeits-)Welt zu passen. Wir sind nicht nur am TV, sondern auch im Netz zu ewigen «Zappern» geworden.

 

Aber wenn sich immer mehr Menschen auf Slow-Food besinnen, wenn die Einhaltung einer gesunden Work-Life-Balance plötzlich salonfähig wird, dann wird diese Entwicklung früher oder später auch unsere Mediennutzung beeinflussen. Davon bin ich überzeugt. Wir wollen uns nicht nur wieder mehr Zeit nehmen für die Familie und wieder frisches, qualitativ hochwertiges Essen auf dem Tisch, sondern wir nehmen uns dann auch wieder mehr Zeit für fundierte Informationen und verlangen dafür qualitativ hochwertige und attraktiv zubereitete Informationen - auf Papier oder auf dem Bildschirm.

 

Und deshalb bin ich davon überzeugt, dass die ständige Diskussion um die richtige Länge eines Online-Textes schon bald (zumindest bei gewissen auf Hintergrund ausgerichteten Angeboten) der Vergangenheit angehört. Vorausgesetzt natürlich, dass wir (Journalisten und PR-Profis) uns auch die Mühe machen, diese Inhalte dann fundiert zu recherchieren und attraktiv zu präsentieren. Auch für Slow-Food sind nur gute Köche und Produkte geeignet. Aber wenn das Gesamtpaket stimmt, dann sind die anspruchsvollen Kunden damit zufrieden. Und sie bezahlen vielleicht sogar mehr dafür?

 

Ja, die These ist nicht wirklich fundiert abgestützt. Aber die Hoffnung stirbt schliesslich immer zuletzt, oder?

 

Neue (Text-)Formen

Wie bereits weiter oben in diesem (viel zu ausführlichen) Artikel erwähnt, gibt es natürlich auch neue (Misch-)Formen, wie man üppigere Inhalte online- oder nutzergerecht(er) aufbereiten kann. Wenn ich hier die These formuliere, dass man auch mal einen Text mit 5000 Zeichen ins Netz stellen darf/soll, dann meine ich natürlich nicht, dass man solche «Kurz-Romane» zwingend im Layout einer Tageszeitung aus den 70er-Jahren gestalten muss. Neue Formen der Darbietung sollten zwingend vermehrt auch in hiesigen (Online-)Redaktionsstuben getestet werden. Nur darf kein solcher Test aus meiner Sicht dazu führen, dass man sich online gänzlich von üppigeren Inhalten verabschiedet. Denn wie gesagt: Ich glaube und hoffe, dass sich einige Menschen wieder nach üppigeren Inhalten sehnen (werden).

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0