Die 10 dümmsten Listen der Welt, die 9 sinnfreisten Artikel oder 5 Gründe, warum News nicht unterhalten müssen: Listicles retten den Journalismus offenbar in die Zukunft. Oder zumindest die gebeutelten Online-Budgets der Verlage. Dabei hätte Online-Journalismus doch viel mehr Potential als eine gar nicht so neue Darstellungsform.
Es gibt gute Neuigkeiten für den Schweizer Online-Journalismus: Es bewegt sich was. Ringier lanciert mit Blick am Abend eine Art Buzzfeed-Kopie, Verleger Peter Wanner (AZ Medien) und Hansi Voigt lancieren watson. Diese neuen News-Seiten wirken optisch frisch, farbig, neu. Diese beiden Projekte zeigen aber auch exemplarisch: Form kann nicht Inhalt ersetzen. Zumindest sollte es das nicht. Auch online nicht. Aus meiner Sicht.
Alles sexy macht die Liste...
Zuerst meine ganz persönliche Abrechnung mit einer schon fast missbrauchten journalistischen Form: Listicles. Ringier setzt unter anderem darauf. Wer dieses Wort vor einem Jahr schon kannte, war ein Trendsetter. Inzwischen gibt es sogar einen kurzen Wikipedia-Eintrag. In meinen Worten: Inhalte als Aufzählung oder Nummerierung statt als Lauftext.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Denn:
1. Gab es auch schon immer als journalistische Form. Schon zu den Zeiten, wo man Nachrichten noch auf Papier druckte.
2. Ist tatsächlich eine attraktive Form, um gewisse Inhalte einfach darstellen zu können.
3. Kann mit Bild und Animationen sogar richtig spannend sein.
4. Bringt natürlich auch Klicks und damit indirekt Werbeumsatz. Das ist legitim, das ist sogar ein bisschen originell.
Aber kann mir jemand erklären, weshalb in solchen Listicle-Artikeln (zumindest gefühlt) ausschliesslich irrelevante oder peinliche oder obszöne oder einfach dämliche Inhalte verpackt werden?
Warum lese ich nirgends 10 Gründe für ein "Ja" bei dieser oder jener Abstimmung? 10 Orte, in denen man besonders wenig Steuern bezahlt? 10 Gemeinden, in denen die Raumplanung besonders intelligent angegangen wird? Kurz: Irgendetwas, was nicht ausschliesslich unterhält, sondern auch nur im Ansatz informiert?
Einiges neu macht Sherlocks Gehilfe...
Mit ähnlichen Bedenken - ich gebe es zu - habe ich den Start der Newsplattform watson beobachtet. Grosse Titel, frech getextet. Noch grössere Bilder, ästhetisch aufgemacht. Farben, frech gemischt. Gefällt mir auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Klick dann zuerst die Enttäuschung: Texte der Nachrichtenagentur. Kennen wir schon. Wunsch nach Interaktion, Aufruf zur Gratis-Werbung durch Likes und Shares. Auch nicht wirklich neu. Ein Experten-Interview als Interview. Eine viel zu selten genutzte Form auf anderen News-Plattformen, aber eigentlich auch nur alter Wein in neuen Schläuchen.
Der dritte Blick ist der Blick nach einigen Tagen: Langsam werden originelle Ansätze sichtbar. Mutigere Texte von meinungsstarken Autoren, schöne Grafiken, offene Links in die ganze weite Welt des Internet.
Also: Kein vernichtendes Urteil für das neue Produkt aus dem Geldbeutel Wanner und dem Hause Voigt, nicht einmal zynische Bemerkungen wie im Kapitel Listicles. Aber auch hier die Erkenntnis: Die Form allein kann's nicht richten. Auch im Netz braucht Journalismus in erster Linie Inhalte. Und Inhalte sind in erster Linie spannende und vielleicht sogar relevante Geschichten. Und Geschichten muss man erzählen. Und erst jetzt kommt die Form ins Spiel.
Was weiss ich... macht die Zukunft
Die Listicle-Plattform der Schweiz will offenbar nur unterhalten, so heisst es ja auch in der Werbung. Sie transportiert zwar News, aber nicht wirklich Neuigkeiten. Schon gar nicht Nachrichten in ihrer ursprünglichen Definition. Offenbar geht man bei einigen Verlagen davon aus, dass sich das gewünschte Zielpublikum (jung, pendelnd, urban) vor allem für lustige Youtube-Videos und obszöne Promi-Einblicke interessiert.
Der Blick auf "trendige" deutsche Plattformen (mit ähnlichem Zielpublikum, z.B. Amy&Pink) zeigt ähnliche Tendenzen, wenn auch noch radikaler aufgemacht. Wenn es alle tun, dann scheint was dran zu sein.
Andererseits besteht ja immer noch die Hoffnung, dass auch das junge, pendelnde und urbane Publikum einmal etwas älter, pendelnd, urban und zusätzlich vielleicht politisch interessiert wird. Dann hat sich dieses Publikum zwar an journalistische Formen wie Listicles gewöhnt. Aber es hat sicher auch nichts dagegen, wenn echte journalistische Inhalte in diese Formen abgepackt werden.
Und ja: Natürlich liegt der Ball auch bei denjenigen Journalisten und Verlagen, die sich noch mit relevanten Nachrichten befassen. Denn wie gesagt: Ich finde Listicles und Co. auch ganz sexy. Warum sich also nicht ebenfalls bei neuen Formaten bedienen? Progressive Formen mit konservativen Inhalten quasi - das müsste man tun! Ich sag's auch den Kollegen in meinem Haus.
Disclaimer: Der Autor ist stv. Leiter der Regionalredaktion Aargau Solothurn von SRF und Projektleiter Online der Regionalredaktionen. Auch SRF macht überhaupt nicht alles richtig und sowieso ist das hier ausschliesslich die ganz persönliche Meinung des Autors. Und nicht die seiner Firma. Oder seines Vorgesetzten. Oder seiner Kollegen.
Und anderer Meinung sein darf man auch. Und man darf diese auch kundtun. Im Kommentarfeld am besten, dann können sie auch andere lesen.
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