#gerigate: 6 Lehren für Journalisten, Politiker und Bürger

Paparazzo-Bild: Der Fall Geri Müller in den Medien Schweiz.
(c) B. Laube / Karl-Heinz Laube / pixelio.de

Ich gebe offen zu: Bereits nach einer Woche Berichterstattung über die sogenannte Affäre rund um Geri Müller habe ich die Nase gestrichen voll. Noch immer werden Dutzende von Artikel publiziert, Tweets abgesetzt, Kommentare geschrieben. Die Inhalte wiederholen sich, wirklich Licht ins Dunkel bringt kaum jemand. Aber: Die Geschichte ist ein wahrhaft grandioses Lehrstück dafür, wie sich Medien und Politik in unserem Land aktuell verhalten. Der Versuch einer Zusammenfassung.

1. Die neuen Medien überfordern uns

Geri Müller hat sich selber als dumm und naiv bezeichnet. Das stimmt wohl. Genau so dumm und naiv verhalten sich Hunderte oder Tausende von Menschen in diesem Land, welche sich selber in mehr oder weniger obszönen Posen ablichten und dann abspeichern, versenden oder sogar in sozialen Netzwerken zur Schau stellen. Vielleicht sind wir mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten schlicht überfordert, wie es Philipp Tingler in der Sonntagszeitung antönt. Tatsache ist: Sexting, also Erpressung durch nackte Tatsachen, das funktioniert nur, wenn nackte Tatsachen im Umlauf oder für die Täterschaft verfügbar sind. Meistens wurden sie vorher «in gegenseitigem Einvernehmen» ausgetauscht. 

Das ist vielleicht auch der einzige positive Aspekt an diesem ganzen #gerigate: Es ist ein Lehrbeispiel dafür, was aus unvorsichtigem Verhalten im virtuellen Raum werden kann - eine persönliche Katastrophe im realen Leben.

 

2. Dieses Land ist prüde

Wahrscheinlich wäre der richtigere Titel: Dieses Land gibt sich prüde. Der Verdacht, dass es sich beim Aufschrei über das private Verhalten von Geri Müller um einen Ausdruck einer tiefen Doppelmoral haltet, diesen Verdacht bringe ich nicht los. Jeder weiss, dass im Umfeld von Macht und Politik (und wohl auch sonst überall in unserem Land) nicht alle Menschen den höchsten moralischen Ansprüchen genügen - Affären aus der Vergangenheit beweisen das. Aber während ein Filippo Lombardi mehrfach angetrunken im Auto unterwegs sein darf und damit Leben gefährdet, wird an Geri Müller nun ein Exempel statuiert. Mit der Begründung, Politiker hätten doch eine Vorbild-Funktion und dergleichen.

Ich finde den Gedanken an Nackt-Selfies von Geri Müller auch nicht gerade prickelnd. Aber bitte: Das ist doch kein Grund für einen Aufschrei, solange wir alle sie nicht selber ansehen müssen...

 

3. Es zählt der Aufschrei

Natürlich gibt Chefredaktor Patrik Müller an, es gehe nicht um die Moral. Die Geschichte sei am letzten Sonntag erschienen, weil sie eine politische Geschichte sei. Die Zusammenfassung dieser Rechtfertigung lautet in etwa so: Ein sich selber fotografierender und sexuell erregter Stadtammann könne seine Geschäfte nicht führen. Zuerst war es ein möglicher Amtsmissbrauch, der die Publikation notwendig machte. Dieser Vorwurf hat sich bisher in Luft aufgelöst, auch wenn die kantonale SVP jetzt auch noch mit einem Vorstoss im Parlament Fragen dazu stellt - und damit wohl vor allem ein bisschen von der Affäre profitieren will. Nun sind es also doch nur noch die Nacktaufnahmen selber - aber nicht aus moralischen, sondern aus politischen Gründen. Ich persönlich bin mit dieser Begründung nicht ganz zufrieden. Der Verdacht bleibt: Die Geschichte war und ist zwar überhaupt nicht relevant, aber sie hatte und hat (boulevardeskes) Potential. Deshalb ist sie erschienen.

 

4. Wir sind Herdentiere

Und deshalb wurde sie bisher schon 100fach ergänzt, korrigiert, überarbeitet, neu aufgelegt, verschärft, neu beleuchtet, kommentiert. Die Frage bleibt: Weshalb entscheiden sich «Blick», «Weltwoche» und andere offenbar gegen die Geschichte, sobald sie aber in der «Schweiz am Sonntag» erschienen ist, drücken alle anderen ebenfalls ab?

Es scheint fast so, als hätten die meisten Redaktoren in diesem Land keine eigenen publizistischen Leitlinien. Wenn der andere darf, dann darf ich auch, lautet die etwas kindliche Regelung. Diese Beobachtung lässt sich im Kleinen bestätigen, wenn es um die Identität der ominösen Chatpartnerin von Geri Müller geht. Zuerst ist es eine Frau, dann eine junge Frau, dann erhält sie plötzlich Initialen. Und einen Wohnort. Und alles immer zuerst bei einem einzigen Medium, und dann plötzlich bei (fast) allen.

Herdentrieb in Reinkultur. Die Gründe dafür kenne ich nicht, aber sie lassen sich vermuten: Fehlende Reflexion, keine Zeit zur Reflexion, kein Interesse daran, fehlende journalistische Ausbildung, Stolz auf vermeintlich exklusives Wissen etc., die Liste liesse sich wohl noch verlängern.

Patrik Müller hat natürlich recht: In diesem Fall hat die Herde von Journalisten immerhin noch ein paar neue Aspekte zur Geschichte recherchiert (z.B. die mögliche Verstrickung von Müllers Gegnerschaft in Baden und einem Zürcher PR-Berater). Trotzdem bleibt das dumpfe Gefühl: Die Frage der Relevanz hat sich letzte Woche kaum jemand gestellt in den Schweizer Redaktionsstuben. Und dieses dumpfe Gefühl betrifft mich durchaus auch selber...

 

5. Die Schweiz ist keine Insel mehr

Die Frage ist ja nicht nur, was die Medien tun. Die Frage ist ja viel mehr, was die Politik daraus macht. Die Politik hätte dieser Affäre schnell die «Relevanz» entziehen können. Mit einem Statement für die Privatsphäre - auch von Geri Müller. Doch sie hat das Gegenteil gemacht: Bürgerliche Parteien in Baden fordern den Rücktritt. Sollte diese Affäre tatsächlich Drahtzieher haben, dann sind diese damit sehr nahe an ihrem Ziel.

Aber die Sache ist grösser: Dass Politik und Medien in den letzten Jahren immer stärker skandalisieren und personalisieren, das ist wohl unbestritten. Auch in meiner noch jungen Karriere erlebe ich diese Tendenz, die laut diversen Politikexperten aus Amerika und/oder Demokratien mit Oppositionssystemen «eingeschleppt» ist. Dass die Schweizer Politik darauf aber bereitwillig reagiert und eingeht, das ist die viel gefährlichere Dimension. Damit wird an den Grundfesten der Schweiz gerüttelt: An vernünftiger, konsensorientierter und sachbezogener Politik, die zu vernünftigen, konsensfähigen und der Sache dienenden Lösungen führt.

Fazit: Es ist unschweizerisch, diese ganze «Affäre» Geri Müller. Aber vielleicht gibt es diese besonders schweizerische Art und Weise der Politik ja auch gar nicht mehr.

 

6. Es braucht zu viel Zeit

Überlegen Sie sich einmal kurz, wie viele Stunden diese Woche mit #gerigate zugebracht wurden! Unzählige Journalisten haben telefoniert, recherchiert, geschrieben. Unzählige von involvierten Amtspersonen, Politikern und Beratern haben dazu Auskunft gegeben, Interviews geführt. Und Tausende von Menschen haben wertvolle Minuten damit verbracht, sich über diese «Affäre» und ihre diversen Verästelungen oder aber deren Aufarbeitungsversuche zu informieren.

Zur selben Zeit sterben Menschen im Krieg. Ich weiss, dieser Vergleich ist Klischee. Und man könnte ihn bei vielen Stories aus der Schweizer Politik hinzuziehen und damit die ganze Geschichte lächerlich machen. Aber in diesem Fall finde ich den stupiden Vergleich gerechtfertigt. Weil er einfach so schön zeigt, wo das Problem liegt: Bei der fehlenden Relevanz.

Also: Wenden wir uns doch wieder den Geschichten zu, die Land und Leuten etwas bringen. Auch ich habe schon viel zu viel Zeit verbraten, um diese Zeilen zu schreiben. Es werden meine ersten und letzte Worte sein zu #gerigate. Versprochen.

 

Disclaimer

Dieser Artikel gibt die persönliche Meinung des Autors wider, nicht die Haltung seines Arbeitgebers SRF. Der Autor ist in die Berichterstattung über den beschriebenen Fall involviert.

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