Hört! auf! mit! dieser! Opfer-Show!

Boulevard-Medien und ihre Opfer-Show: Der Schrei nach Aufmerksamkeit am Kiosk (Bild)
(c) Kunstzirkus / pixelio.de

Pressetitel und Online-Medien gieren nach Aufmerksamkeit. Zum Beispiel mit solchen Ausrufezeichen in Überschriften. Das ist nicht neu. Und im Boulevard schon immer schlimmer gewesen. Aber es gibt eine besonders perverse Art des Erregungsjournalismus. Es passiert nach tragischen und tödlichen Unfällen. Und die Überschriften lauten: «Sie hat so viel gelacht» oder «Er wollte noch eine Weltreise machen».

In den letzten Tagen und Wochen haben sich auch in meinem Tätigkeitsgebiet tragische Unfälle mit Todesfolge gehäuft (zum Beispiel Frontalkollision mit zwei Todesopfern in Seon, Kollision zwischen Lastwagen und Postauto mit zwei Todesopfern in Endingen). Die Berichterstattung über solche tragischen Ereignisse gehören zum täglichen Handwerk von Journalisten. Das ist auch bei mir nicht anders.

 

Aber es gibt zwei Arten, mit solchen Unfällen umzugehen. Die eine ist die meine oder die meines Unternehmens (und auch ein paar anderen), die andere ist die von gewissen Online- und/oder Boulevardmedien in diesem Land. Und mich nervt diese Art gewaltig. Dieser Text ist deshalb klar persönlich - und er bezieht Position.

 

«Sie hat so gern gelacht»

Familiendrama, Auto-Unfall, Bus-Unglück. Die Schauplätze und Drehbücher der Dramen spielen gar keine Rolle. Spätestens am Tag danach, heute aber auch schon früher, folgen die Schlagzeilen mit solchen Zitaten. Dazu ein (manchmal wenigstens verpixeltes) Foto eines Opfers. In den dazugehörigen Texten werden Nachbarn oder Lehrmeister oder Freunde zitiert, die sich wehmütig an die fröhlichen Stunden des verstorbenen Opfers erinnern. Standard-Aussage dazu: «Ihre Freunde sind sehr traurig.» Oftmals können sie es auch kaum glauben, dass so etwas passiert ist. Und natürlich sind sie schockiert.

 

Das ist aus meiner Sicht eine total überflüssige journalistische «Leistung». Die folgenden Ausführungen dürften kaltherzig klingen. So ist das nicht gemeint. Mich haben einige Unglücke in letzter Zeit sehr betroffen gemacht. Aber gerade deswegen wäre ich nicht in der Lage, eine solche Berichterstattung auch nur im Ansatz zu unterstützen. Diese Art der Opfer-Show widert mich an.

 

Wer hat was davon?

Das mediale Ausschlachten der Opfer von Unfällen und Verbrechen ist aus mehreren Gründen überflüssig und verwerflich. Wahrscheinlich liesse sich die folgende Liste beliebig verlängern - weitere Argumente sind herzlich willkommen!

 

  • Es bringt mir als Leser/User nichts. Die Freunde des Unfallopfers sind traurig? Komisch, es sind ja die Freunde, die müssten sich doch freuen, oder!? Die Eltern hätten niemals gedacht, dass so etwas passiert? Na klar, Unfälle sind doch sonst so etwas von vorhersehbar... Ironie aus: Wir erfahren nie etwas wirklich Überraschendes in solchen Berichten. Nie.
  • Es ist keine journalistische Leistung. Die Namen von Opfern zu recherchieren ist nach Unfällen und Verbrechen zwar manchmal zeitaufwändig, aber nicht wirklich schwierig. Wenn man schon eine völlig überflüssige Geschichte schreibt, dann könnte man sich ja wenigstens mit der Recherche-Leistung brüsten? Nöö, kann man auch nicht, sorry. Ich weiss zum Beispiel aus sicherer Quelle, dass SRF-Kollegen genau so viel wussten nach dem Familiendrama in Wilderswil wie ihre Kolleginnen und Kollegen - mit dem Unterschied, dass die einen alles publizieren, was sie wissen. Und die anderen eben nicht.
  • Es verletzt (zumindest gefühlte) Persönlichkeitsrechte. Es mag ja Leute geben, die ihre Trauer gerne in aller Öffentlichkeit teilen. Aber die meisten Leute sind sich überhaupt nicht bewusst, was Medienberichte über sie oder ihre Angehörigen auslösen. Tote mit Bild zu publizieren und ihre Familien und Freunde mit ihrer Trauer in der Öffentlichkeit zu präsentieren, das ist mindestens problematisch. Ob es rechtlich immer korrekt ist, das müssten andere Gremien entscheiden... Meiner Meinung nach müssten Journalisten aber auch in der Lage sein, Menschen vor sich selber zu schützen. Mit dieser öffentlichen Zurschaustellung tut man das Gegenteil.
  • Es gibt bessere Geschichten. Immer. Natürlich sind Spekulationen über mögliche Unfallursachen am ersten Tag problematisch. Natürlich sind steile Thesen über mögliche Schuldige publizistisch heikel. Aber alle diese Themen wären immer noch relevanter und spannender als die ewig gleichen Portraits von Toten und trauernden Angehörigen. Und ansonsten könnte man ja auch einfach den Unfall oder das Familiendrama sein lassen, was es ist. Ein tragischer Unfall, eine weitere Meldung im ewigen Strom der negativen Nachrichten. Und einfach eine andere Geschichte machen.
  • Das Publikum ist nicht dumm. Es wird merken, dass diese «Sie war immer so lustig»-Schlagzeilen sich wiederholen. Haben Sie gemerkt, dass man am Fernsehen immer weniger oft die Nachbarn mit ihren «Das hätte ich nie gedacht, die waren doch immer so nett»-Aussagen sieht? Offenbar hat sich da bei den Redaktionen schon herumgesprochen, dass das Publikum sich langweilen könnte.

Der Kunde ist König...

Natürlich werden Autorinnen und Autoren von Opfer-Shows anmerken, dass ihre Geschichten gelesen oder geklickt werden. Ich kenne keine Zahlen, aber ich muss davon ausgehen, dass es so ist. Weshalb sonst sollte eine Tageszeitung bis zu drei Reporter auf so ein Thema ansetzen?


... aber auch Könige kann man überzeugen!

Die Argumentation, dass «der Kunde es will», das ist natürlich die Totschlag-Argumentation. Was soll ich da entgegnen? Erstens: Müsst Ihr wirklich alles bieten, was Ihr glaubt, dass der Kunde es wollen möchte? Es verkauft ja auch keiner Instrumente, um Reifen aufzuschlitzen. Auch wenn dafür sicherlich ein Markt bestünde.

Und zweitens: Habt Ihr es schon einmal mit noch besseren Geschichten versucht? So funktioniert der freie Markt doch: Wer das bessere Produkt hat, der gewinnt.

 

Ich bin sicher: Es gibt bessere Produkte als Opfer-Shows.

 


Disclaimer: Maurice Velati arbeitet als Redaktor bei Schweizer Radio und Fernsehen. Dieser Text gibt seine persönliche Meinung wider und nicht die Meinung des Unternehmens.


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Kommentare: 4
  • #1

    beni fankhauser (Donnerstag, 13 November 2014 10:49)

    super, mv, danke!
    ich frage mich oft auch, ob es überhaupt nötig ist, solche einzelne meldungen von unfällen zu bringen. es gibt doch dauernd unfälle?
    vor ein paar tagen war es doch, der angefahrene junge, schwer verletzt? wieso muss ich das wissen? welchen wissensmehrwert hat so eine meldung? einen erzieherischen?
    landen nicht täglich kinder im spital, auch schwer verletzt?

    so gesehen könnte man doch wirklich einen dauerkanal direkt aus dem spital senden?
    "vor 15 minuten wurde hier der vierjährige luca aus b. mit mehreren frakturen eingeliefert, nachdem er offensichtlich unbeaufsichtigt eine leiter raufgeklettert war und dann ausrutschte."
    stelle mir vor, dass viele königskunden auch diesen kanal konsumieren würden.

  • #2

    Ferdi Bärlocher (Donnerstag, 13 November 2014 14:04)

    Schön, dass für Sie "gefühlte" Argumente zählen. Warum soll es "mindestens problematisch" sein, wenn Angehörige ihre Trauer öffentlich verarbeiten? Ein Sonderbares Gefühl von Journalismus, wenn Öffentlichkeit per se etwas Negativ ist. Und zur Einschätzung der journalistischen Leistung fehlt Ihnen offensichtlich die persönliche Rechercheerfahrung. Langweilen dürfen Sie diese Geschichten aber natürlich, geht mir auch so, auch wenn dabei mein Gewissen diffis schlecht ist (bei mir: die Life Story einer KV-Stiftun als langweilig und immergleich wahrzunehmen, ist ein bisschen selbstentlarvend).

  • #3

    Maurice Velati (Donnerstag, 13 November 2014 14:29)

    Lieber Herr Bärlocher
    ich gebe zu: Es sind zum Teil "gefühlte" Argumente. Es ist ja auch als ein rein persönlicher Text deklariert. Allerdings wehre ich mich gegen den Vorwurf, Öffentlichkeit per se als schlecht zu sehen. So habe ich das nicht gesagt. Tatsächlich gibt es Menschen, die die Öffentlichkeit suchen. Trotzdem erachte ich es als einen wichtigen Bestandteil der Berufsehre, dass wir vorsichtig mit diesen Menschen umgehen. Und: Ich kenne viele Fälle persönlich und aus Erzählungen (auch aus meiner Zeit als Medientrainer, nicht Journalist), wo mir Menschen über ihre Erfahrungen mit solchen Stories berichtet haben. Sie waren überfordert, wurden von den Ansprüchen der Journalisten "überfahren" und waren sich vor allem der Folgen dieser breiten Öffentlichkeitswirkung nicht bewusst.
    Zur Rechercheleistung darf ich anmerken, dass ich (leider) auch schon solche Geschichten machen musste. Ich habe also durchaus Erfahrung damit, Menschen zu finden. Was mir tatsächlich fehlt ist die Erfahrung, wie man dann solche Menschen anspricht und in journalistische Artikel einbindet. Aber auf diese Erfahrung kann ich aus oben dargelegten Gründen gerne verzichten.
    Trotzdem: Ich danke für den Kommentar - denn genau diese Diskussion möchte ich ja (mit-)anstossen. In diesem Sinne: Merci.

  • #4

    Thomas Schiesser (Samstag, 15 November 2014 16:03)

    Gratulation MV

    Es ist ein Anfang, und es stimmt mich sehr positiv, dass Du als Journalist bei SRF (auch wenn es "noch" Deine persönliche Meinung ist), eine erste Einsicht an den Tag legst.
    Alles was wir auf dieser Erde erschaffen haben, hat mit einem Gedanken begonnen. Wenn ein Architekt ein Haus kreieren will, braucht er zuerst eine Idee, also einen Gedanken. Die Medien schaffen tagtäglich in den Köpfen ihrer Leser/Seher/Hörer nichts anderes als Gedanken. Welche Gedanken haben die "Könige" wie Du sie nennst denn, wenn sie eben diese Ausrufezeichen! Mitteilungen vorgesetzt bekommen? Ich will mal eine These aufstellen: Nicht gerade Schöne!

    Ich bin ganz und gar Deiner Meinung, dass wir doch bitte endlich beginnen, über die positiven und Schönen Dinge zu berichten. Ja, dafür gibt es einen Markt. Aus dem Marketing kenne ich den Begriff der Marktentwicklung (Apple mit dem iPad musste den Markt auch entwickeln), und auch die Medienschaffenden dürfen den "positiven Markt" entwickeln.

    Bleib dran, ich finde Deine Meinung toll!