Ein Grossbrand in Olten wird zum nationalen Medien-Ereignis. Ein Grund dafür: Es ist sofort tonnenweise Bild- und Videomaterial verfügbar. «Bürger-Journalismus», «Augenzeugen-Material» oder auch «Gaffer-Videos» sei Dank.
Eine gute Entwicklung? Auf jeden Fall gefährlich. Für Journalisten und Augenzeugen. Ein Debattenbeitrag.
Mein Erlebnisbericht
Der Polizei-Alarm per SMS kommt um 17:42 Uhr. Doch auf Twitter kursieren bereits die ersten Bilder. «Explosionen» in Olten, dicker Rauch, «Grossbrand». In den Redaktionen (auch in meiner) bricht Hektik aus. Kurze Zeit später sitze ich im Auto und fahre nach Olten. Auftrag: Die Online-Redaktion schreit nach Bildern, die Radio-Redaktion will dringend Fakten für die nächste Nachrichtensendung. Journalistischer Alltag.
Mehrere Explosionen! Grossbrand wütet in Olten http://t.co/F1Iwo5ZmzE pic.twitter.com/tqYfSEPFQP
— Blick (@Blickch) 14. Juli 2015
In Olten angekommen, werde ich zuerst von der Polizei verscheucht. Offenbar hat man schlechte Erfahrungen gemacht rund um den Brandplatz, erzählt mir eine anwesende Kollegin. Sie war schon früher da, hat vom Brand aus privaten Quellen erfahren. Und stand zusammen mit wohl Dutzenden Schaulustigen zuerst in unmittelbarer Nähe des Schadenplatzes. Die Feuerwehren mussten sich mit ihren Löschfahrzeugen beinahe einen Weg durch die Zuschauermassen bahnen. Alltag für die Sicherheitskräfte.
Nun bin ich also vor Ort. Kann ein paar Bilder machen. Die sind aber leider gar nicht mehr so spektakulär wie alle die Zuschauer-Fotos und Gaffer-Videos, die der Online-Redaktion in Zürich bereits zugespielt wurden. Mein Job wäre jetzt also das Fakten-Sammeln. Aber: Der Polizeisprecher ist noch immer auf dem Weg aus Solothurn. Sonst spricht keiner mit mir. Oder keiner weiss etwas. Wir warten.
Segen und Fluch für Medienleute
Was ich mit diesen Schilderungen überhaupt sagen will? Ich will sagen, dass die Möglichkeit der Augenzeugen-Berichterstattung Fluch und Segen gleichzeitig ist. Wir erfahren in «Real-Time» von Unglücken dieser Art. Wir Journalisten und die ganze Welt sind sofort darüber informiert, dass hier etwas passiert ist. Ein Segen? Vielleicht. Der Fluch daran ist aber, dass wir alle in grosse Hektik ausbrechen, anschliessend über Stunden fast keine gesicherten Fakten erhalten und damit auch keine gesicherten Informationen weiter geben können. Am Schluss gibt es für die Nachrichten um 19 Uhr endlich ein paar wenige handfeste Informationen: Keine Verletzten, Feuerausbruch bei Bauarbeiten, wahrscheinlich zwei Explosionen durch Gasflaschen, Feuer bereits unter Kontrolle. Viel mehr ist es nicht.
Das Informationsvakuum bleibt also bestehen, auch wenn inzwischen Dutzende von Fotos und Videos im Netz kursieren, die allesamt den Eindruck erwecken, es handle sich hier um ein Unglück epischen Ausmasses. Und weil dieser Eindruck entsteht, treffe ich in Olten plötzlich Journalisten, die ich noch nie gesehen habe in dieser Gegend... auch nicht bei wirklich wegweisenden politischen oder wirtschaftlichen Themen zum Beispiel. Wir stehen uns auf den Füssen herum, streiten um die ersten Interviews mit dem Polizeisprecher. Alle sind hektisch, alle berichten in ihren Medien darüber, dass sie eigentlich noch nicht viel wissen. Mehrwert für das Publikum? Sagen wir vorsichtig: Wenig.
Ganz ehrlich: Wären nicht sofort diese beeindruckenden Bilder vom Brandplatz in Umlauf gewesen und die (falschen) Aussagen über «mehrere grosse Explosionen», dann wären viele Journalisten erst gar nicht angereist. Wir hätten wohl kaum ein solches Aufhebens um diesen Brand gemacht. Aber weil jetzt schon alle (auch Online-User) davon wussten und ob der Bilder vielleicht gar in Panik zu geraten drohten, mussten natürlich auch wir breit über diesen (gar nicht so tragischen) Brand berichten. So geht das.
Kamera an, gesunder Menschenverstand aus?
Das ist die rein journalistische oder publizistische Sicht auf die Dinge. Es gibt noch eine ganz andere. Augenzeugen, die das Handy zücken und zuerst mal «draufhalten», die sind durchaus
gefährlich... und gefährdet:
- Es gab in Olten tatsächlich Explosionen (Gasflaschen auf dem Dach explodierten, Teile flogen auf die Strasse). Einzelne Videos zeigen denn auch, wie die Menschen während den Filmaufnahmen plötzlich erschrecken und wegrennen. Ja: Wer die Kamera möglichst nah draufhalten will, der gefährdet sich unter Umständen selber...
- Die Rettungskräfte hätten bei so einem Einsatz eigentlich anderes zu tun, als Strassen abzusperren und Schaulustige wegzujagen... man täte auch denen allen einen Dienst, wenn man sich etwas entfernen würde... auch wenn dann natürlich die Bilder nicht mehr so grossartig werden...
- In Solothurn wurde bereits im Jahr 2011 ein Altstadt-Brand über Minuten der Feuerwehr nicht gemeldet... im Nachhinein wurde bekannt: Ein Mann in einer unbelebten Seitenstrasse hatte den Notruf gewählt und die Feuerwehr verständigt. Auf der Hauptstrasse vor dem brennenden Gebäude aber standen Dutzende von Menschen herum und filmten. Und jeder von denen dachte, ein anderer hätte die Rettungskräfte bereits informiert...
Noch eine Bemerkung zu diesem Thema: Eine Fotografin einer grossen Tageszeitung half vor kurzem bei
einem Unfall. Sie war früher da als die Rettungskräfte und leistete erste Hilfe. Ein toller Einsatz, vorbildlich. Vorbildlich auch, dass die menschliche Verpflichtung vor der beruflichen
Verpflichtung kam... ich habe keine Fotos der Opfer gesehen, nur Fotos der Fotografin vor dem Autowrack. Bedenklich ist eigentlich nur, dass man daraus sogar eine kleine Heldengeschichte machen
konnte... müsste das nicht eigentlich das ganz normale Vorgehen sein?
Fazit
Ja, auch mein Arbeitgeber lebt zum Teil von «user generated content». Und ich bin überhaupt nicht grundsätzlich dagegen, dass man solche Inputs nutzt als Medium. Oder dass man solchen Input
produziert als Handy-Besitzer. Man sollte vielleicht nur auch den Fluch in diesem Segen sehen. Und entsprechend vernünftig handeln.
Kommentar schreiben