Im zarten Alter von 17 Jahren begeht Tobi B.* eine brutale Tat: Er bricht in ein Aarauer Bordell ein und vergewaltigt eine Prostituierte (40). Anschliessend erwürgt er sie.
Ich bin Journalist, kein Jurist. Gerichtsurteile lesen und verstehen ist nicht einfach. Wenn die Pressemitteilung dazu auf englisch und das Urteil nur auf französisch vorliegt, dann wird es richtig schwierig. Darum geht es in dieser Geschichte.
Genauer: Was passieren kann, wenn Journalisten eine Quelle nicht genau lesen oder verstehen, wenn Kommentatoren den Artikel dazu nicht ganz lesen oder verstehen und wenn dann auch noch Wahlkampf ist... die Geschichte eines vermeintlichen Skandals.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ist dem Europarat angegliedert, nicht der EU) hat am 30.04.2019 ein Urteil publiziert, das im Kanton Aargau für etwas Aufsehen sorgte. Es geht dabei um einen bekannten und brutalen Mord in Aarau, der von einem jugendlichen Straftäter begangen worden war. Der Umgang mit diesem Straftäter hat im Aargau immer wieder Berichte ausgelöst - weil man keine geeignete Unterkunft für ihn fand oder weil die Kostenfrage nicht geklärt war. Durchaus gute Gründe also, um über diesen Entscheid aus Strassburg zu berichten.
Die Originaldokumente seien für interessierte Leserinnen und Leser hier angefügt, es ist besagte Pressemitteilung auf englisch und das Urteil auf französisch (ich habe übrigens persönlich nur die Pressemitteilung eingehend studiert).
Die Berichterstattung zum Fall löste dann unzählige sehr enervierte Reaktionen aus. Zum Beispiel diese hier von Nationalrat Thomas Burgherr auf Facebook:
So: Warum poste ich das alles? Weil eben spannend ist, wie unterschiedlich die englische Mitteilung des Gerichtshofs für Menschenrechte von Journalistinnen und Journalisten in der Schweiz verstanden wurde. Im folgenden seien einfach zwei Online-Artikel zum Thema publiziert - als unkommentierte Vergleichsstudie quasi:
Der Mann beschäftigt die Justiz seit Jahren, seitdem er 2008 als Minderjähriger in Aarau eine Prostituierte umgebracht hat. Für seine Tat wurde er vom Jugendstrafgericht wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilt und sass vier Jahre lang seine Strafe ab – die Maximalstrafe nach Jugendstrafrecht.
Beim Wechsel ins Erwachsenenalter stellte sich die Frage, wo der psychisch gestörte Mann untergebracht wird. Die Aargauer Justiz versetzten den Mann in den fürsorgerischen Strafvollzug in die Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Das Bundesgericht befand diese Lösung als nicht ideal. Seit Herbst 2018 befindet sich der Mann deshalb in einer Institution im Kanton Zürich.
Der verurteilte Mörder gelangte allerdings an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und klagte, seine Freiheit sei verletzt worden. Der EGMR urteilt nun, es habe keine rechtliche Grundlage gegeben, den Mann von April 2014 bis April 2015 im Sicherheitsflügel in Lenzburg fürsorgerisch unterzubringen.
Es reiche nicht aus, den Mann fürsorgerisch unterzubringen, nur weil er eine Gefahr für andere darstelle. Das habe auch das Bundesgericht in einem Leiturteil so entschieden, so der EGMR. Er heisst die Klage des verurteilten Mörders deshalb gut, mit Verweis auf die Schweizer Rechtsprechung.
Der Staat muss dem Mann eine Entschädigung von 25'000 Euro sowie 7000 Euro für die Umtriebe bezahlen. Der verurteilte Mörder bleibt allerdings weiter in der Zürcher Institution untergebracht. Diese Unterbringung wird regelmässig überprüft.
Box: Auswirkungen des EGMR-Urteils
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann mit seinem Urteil einen Entscheid des Bundesgericht beanstanden, aber nicht aufheben. Stellt der EGMR eine Verletzung der Menschenrechte fest, kann das kritisierte Urteil unter bestimmten Umständen beim Bundesgericht angefochten werden.
(Quelle: Schweizerisches Bundesgericht)
Der Aargauer Tobi B. tötet im Jahr 2008 eine Prostituierte und wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Gegen die anschliessende fürsorgerische Unterbringung beschwert sich der Dirnen-Killer beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg – und bekommt Recht.
Im zarten Alter von 17 Jahren begeht Tobi B.* eine brutale Tat: Er bricht in ein Aarauer Bordell ein und vergewaltigt eine Prostituierte (40). Anschliessend erwürgt er sie.
Tobi B. wurde deshalb 2008 wegen Mordes, sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren verurteilt. Auf das Ende der Strafe wurde ein fürsorgerischer Freiheitsentzug verfügt.
Der Dirnen-Killer wehrte sich gegen die fürsorgerische Unterbringung und beschwerte sich beim Bundesgericht. Dort blitzte er ab. Die Begründung damals: Tobi B. sei eine grosse Gefahr für Leib und Leben Dritter.
Also wandte sich der Verurteilte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg – und die Richter geben Tobi B. nun tatsächlich recht.
Die Begründung des Bundesgerichts reiche für die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung nicht aus, heisst es im Urteil.
Die Richter verdonnern die Schweiz deshalb dazu, dem Killer eine Genugtuung von 25'000 Euro zu zahlen. Obendrauf kommen 7000 Euro Entschädigung. Insgesamt ergibt dies eine Summe von umgerechnet knapp 37'000 Franken.
So leicht kommt Tobi B. aber nicht davon. Trotz des Urteils muss er nicht in Freiheit entlassen werden. Denn: Das EGMR kann zwar einen Entscheid des Bundesgerichts beanstanden, jedoch nicht aufheben.
Der Dirnen-Killer könnte noch versuchen, das Urteil des Bundesgerichts mit einer Revision aufheben zu lassen.
Der Anwalt von Tobi B. lässt auf Anfrage der «Aargauer Zeitung» ausrichten, er nehme zum Urteil keine Stellung.
Mein Team ist also nach dem Studium der Pressemitteilung aus Strassburg zu folgenden Schlüssen gekommen: Im Urteil geht es nicht um die Frage, ob der Mann entlassen werden muss. Es geht auch nicht um die Frage, ob seine aktuelle Unterbringung rechtens ist, sondern nur um einen bestimmten Zeitraum in der Vergangenheit. Es geht auch nicht darum, ob europäisches Recht verletzt wurde, sondern um die Auslegung des gültigen Schweizer Rechts. Und es ist sogar noch komplizierter, was aber beide Artikel verschweigen: Die Ursache für den ganzen Rechtsstreit ist eine damalige Änderung im Schweizer Zivilrecht.
Verschiedene Medien haben über dieses Urteil berichtet. Und in verschiedenen Medien wurde - aus welchen Gründen auch immer - behauptet, es gehe um die Frage einer möglichen Freilassung. Ich kann nach der Lektüre der Pressemitteilung wirklich nicht erkennen, wo man diese Information gefunden haben will.
Wenn dann Leserinnen und User auch noch die Artikel nicht ganz genau lesen, dann entsteht verständlicherweise Wut auf die «fremden Richter».
Mein Fazit zu dieser Geschichte ist eigentlich ganz einfach:
Wurden in diesem Fall sogenannte «Fake-News» verbreitet? Diese Beurteilung überlasse ich gerne den Leserinnen und Lesern meines Blogs. Zumindest haben wir Journalistinnen und Journalisten leider einmal mehr bewiesen, dass manchmal Tempo höher gewichtet wird als Faktentreue. Ich erachte die Berichterstattung über diesen Fall deshalb zumindest nicht als Ruhmesblatt für unsere Branche.
PS: Ich bin persönlich kein «EU-Turbo». Und ich habe mich mit der Frage des Rahmenabkommens überhaupt noch nicht befasst, weil ich als Regionaljournalist damit fast nichts zu tun habe. Das heisst: Ich schreibe diesen Artikel wirklich nur aus journalistischen, nicht aber aus politischen Gründen. Das Beispiel eignet sich (leider) einfach gut als Illustration für ein aus meiner Sicht zu stark verbreitetes Phänomen.
Ich stelle mich gerne der Diskussion. Hier über das Kommentarfeld, in sozialen Medien oder auch persönlich bei Kaffee oder Bier. Ich bitte allerdings um Verständnis dafür, dass ich jeweils nicht sofort auf jeden Kommentar antworten kann, da ich diesen Blog wie oben erwähnt natürlich nur privat betreibe.
Und ich bitte ebenso um Verständnis, dass ich alles löschen werde, was den üblichen Richtlinien des guten Geschmacks und einer aufgeklärten Gesellschaft widerspricht.
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Beni (Mittwoch, 01 Mai 2019 15:06)
Danke, Maurice! Hatte auch Mühe, all diese versch. Artikel zu diesem Fall verstehen und einordnen zu können. Vielen Dank für deine Arbeit/Zeit... ..and thx for sharing!
Hast du‘s der kantonalen SVP-Leitung auch zukommen lassen? Ich hoffe es. War ja offensichtlich ein gefundenes Fressen, um von unangenehmeren, eigenen Themen ablenken und langsam wieder in die Spur zu finden. Nur meine Meinung natürlich. �